Treue Gefährten: Ein Garten ist nicht immer nur ein Ort voller Lebensfreude und Leichtigkeit, sondern er kann auch ein Ort tiefer Trauer sein – über die letzte Ruhestätte für einen verrückten Hund
Ich weiß noch, als ich ihn das erste Mal gesehen habe. So groß wie ein Meerschweinchen, ein kleines quietschendes Fellbündel in einem Korb. Keine vier Wochen alt, schauten seine dunklen Knopfaugen neugierig in die Welt. Es war ein Funke Magie in der Luft, denn ich wusste zwar, dass nur noch ein Welpe zu vergeben war, aber nicht welcher. Ein Blick in den Korb und ich dachte der Schwarze mit der weißen Brust und den braunen Pfoten, die aussehen wie Stiefelchen. Kaum waren die kleinen Racker aus dem Korb gehopst, rollte sich eben jener unter meinem Stuhl zusammen und wich mir nicht mehr von der Seite. Und er war es, er war noch zu haben. Dabei war er doch der Schönste! Ist es zu fassen, dass ich dann noch erfuhr, dass wir am gleichen Tage Ende November Geburtstag hatten?
Bis auf eine tiefe Sympathie für Hunde, die mich schon mein gesamtes Leben begleitete, hatte ich absolut keine Ahnung was zu tun war. Und was auf mich zukommen würde. Ich hatte als Studentin nicht mal ein Auto, dafür eine Fernbeziehung und ein Labrador-Australien-Shepherd-Mischling versprach nicht gerade ein Schoßhund zu werden. Das obligatorische Nochmal-drüber-Schlafen hätte ich mir schenken können. „Lass uns die Welpen nur mal anschauen“, war wohl der naivste Satz den ich je von mir gegeben habe. Natürlich war es sofort um mich geschehen, die Sache war geritzt, wir gehörten zusammen. Also musste ich erst einmal bei meinem Arbeitgeber Urlaub nehmen und spontan ein Auto kaufen, um meinen neuen Gefährten angemessen transportieren zu können. Es wurde ein alter BMW 325i Touring, mit Sechs-Zylinder-Maschine. Wem das nichts sagt: Beim Anlassen hatte er den unnachahmlichen Klang einer Flugzeugturbine. Im Kassettendeck liefen ACDC und Pink Floyd, auf die grau-melierte Motorhaube (keine Ahnung warum die so aussah) lackierte ich tiefschwarze Flammen. Wenige Wochen später stieg ich mit meinen Leopardenfell-Stiefeletten aus unserer neuen Karre und holte ihn ab: Leo.
Inzwischen bereits auf die Größe einer molligen Katze herangewachsen, stieg er ein, rollte sich auf meinem Schoß zusammen als wollte er sagen: „Wo warst Du nur, ich hab schon auf Dich gewartet.“ Kein nächtliches Jammern, nichts. Sein Platz war wie selbstverständlich an meiner Seite, als könne es gar nicht anders sein, als sollte es immer so sein. Und so begann unser gemeinsamer Lebensweg. Zügig wuchs er zu einem stattlichen jungen Burschen heran: 65cm hoch, 30 Kilo schwer. Ein richtiger Hund. Mit seinem plüschigen seidig glänzenden Fell wirkte er nochmal imposanter. Problematisch war gelegentlich, dass er sich zeitlebens eher für einen Terrier hielt und sich gerne mal auf dem Schoß platzieren wollte. Aber auch insgesamt sollte es die kommenden zwölfeinhalb Jahre nicht langweilig werden mit ihm.
Eine ausgeprägte Rüpelphase die eigentlich mal mehr, mal weniger, sein gesamtes Leben anhielt, hat mir zahlreiche unangenehme Situationen beschert. Auf einer Hundewiese kam ich mit einer Dame ins Gespräch, bei der er es nach einer Schnüffelprobe für nötig hielt, ihr Hosenbein zu markieren. Während ich panisch einen kläglichen Versuch unternahm mit einem Taschentuch was auch immer retten zu wollen, markierte er das andere Bein. Das hat er einmal und nie wieder getan, das Rätsel konnte nie gelöst werden. Die Frau war übrigens blind.
Bei einem Spaziergang durch Wiesen an einem Fluss, wälzte er sich beherzt in einem frischen senfgelben Kuhfladen, nahm danach Anlauf und besprang übermütig meine Mutter, die danach eine Weile nicht besonders gut auf ihn zu sprechen war. Weihnachten stahl er eine Schachtel handgemachter Pralinen vom Schrank, warf dabei eine angefangene Flasche Rotwein um, die er vom Boden aufschleckte. Als wir aus der Kirche nach Hause kamen, lehnte er kläglich fiepend im Türrahmen, warf uns einen vorwurfsvollen Blick zu und schlief danach laut schnarchend seinen Rausch aus. Während uns das Betthupferl fehlte. Ostern hätte ich schwören können, dass noch Eier auf dem Küchentisch gestanden hatten, doch ich musste mich getäuscht haben. Bis ich am nächsten Morgen die bunten Hinterlassenschaften meines Vierbeiners aufsammelte. Er hatte tatsächlich zehn gefärbte Eier mit Schale gefressen. Sein Fell hat nie wieder so geglänzt wie an den Tagen nach dem proteinreichen Festmahl.
Über Besuch freute er sich grundsätzlich riesig, kontrollierte gerne Handtaschen mit gesamter Schnauzenlänge bis auf den Grund, klaute meinen Mitarbeitern regelmäßig die Frühstücksbrote, liebte das Autofahren und ausgedehnte Runden im Wald, war aber am Ende des Tages froh, wenn wir Beide uns zusammen auf dem Sofa einfanden. Seine Exklusiv-Zeit mit mir, seiner Nummer eins, forderte er mitunter mit hypnotischen Blicken ein und warf Besucher regelrecht raus, indem er den Blick ungeniert zwischen Gast und Tür hin und her wandern ließ. Regelmäßig entfuhr es den Leuten: „Ja, ich gehe ja schon!“ So könnte ich Seite um Seite füllen.
Auch wenn ich diese riesige Nervensäge manchmal am liebsten mit dem Spaten erschlagen hätte, ich habe dieses verrückte Vieh geliebt. Ein spezieller Hund, mit einer sehr menschlichen Mimik und keinem leichten Charakter. Ich musste zeitlebens mit ihm arbeiten, korrigieren, ihn immer wieder in die Schranken weisen, aber er war mein Hund. Schnell hatte sich auch der Rufname Kumpel manifestiert. Eben weil er mein Kumpel war. Er war treu an meiner Seite, vor allem in einer Phase meines Lebens als alles in Scherben zu liegen schien und ich nur aus unserer täglichen Waldrunde Kraft schöpfen konnte. Kumpel war immer da, eine feste Größe in meinem Leben.
So war es für uns beide eine glückliche Fügung, als ich im Herbst 2012 einen der begehrten Pachtgärten am Schloss Wilhelmshöhe bekam, wo wir in den folgenden Jahren sehr viel Zeit verbrachten. Im Sommer haben wir ganze Wochenenden dort in unserer Hütte verbracht, er hat meinen Gemüseanbau überwacht und mir beim Lesen Gesellschaft geleistet. Fremde die dem Zaun zu nahe kamen, wurden in die Flucht geschlagen, der Garten war unser Revier, unser Rückzugsort. Nur einen Menschen hat er seinerzeit unangebellt einfach durch das Gartentürchen hinein gelassen: meinen Mann. Er hat uns quasi seinen Segen gegeben, er war mit meiner Wahl einverstanden.
Allerdings sorgte er auch für große Ernteausfälle. Denn was er mehr als alles andere liebte, waren Möhren. Sobald sie reif waren, stellte er sich auf das Hochbeet, grub mit der Schnauze das begehrte Gemüse aus und vertilgte es laut schmatzend auf der Wiese. Auch Salatgurken und Zucchini pflückte er lässig im Vorbeirennen und bretterte mit triumphierendem Blick an mir vorbei in die hinterste Ecke des Gartens wo ich nicht mehr rechtzeitig ankommen würde. Paprika, Äpfel und Birnen waren ebenso stark gefährdet, nur die Kürbisse ließ er links liegen. Wenn er nach Hause wollte, klemmte er sich an das Gartentor und ließ seinen gefürchteten Hypnose-Blick mit hochgezogenen Brauen schweifen, der keine Fragen offen ließ. Wollte ich noch bleiben, sprang er schon mal für ein Nickerchen in den Kofferraum, der für ihn immer ein Rückzugsort war. Da fühlte er sich wohl und war sicher, dass er auf jeden Fall dabei wäre, wenn es losginge.
Als wir Anfang 2018 dann unser Traumhaus fanden, verkaufte ich den Garten sehr schweren Herzens. Bis heute hänge ich ihm etwas nach. Es ging eine Ära zu Ende. So viele Erinnerungen sind dort auch untrennbar mit Kumpel verbunden. Und leider muss ich sagen, dass er nie so richtig in unserem Haus angekommen ist. Der Supergau war dann noch, als unsere Tochter kurz drauf zur Welt kam und das Haus allabendlich zusammen brüllte. Die schönen Zeiten mit festen Routinen – ganz wichtig für ihn – und gemeinsamen Abenden auf dem Sofa waren vorbei. Für uns alle. Und kurz darauf, als wir gerade so eine kühle Koexistenz arrangieren konnten, kam noch ein zweites Baby, unsere zweite Tochter. Für einen älteren Herrn mit ohnehin schon speziellem Wesen, war die Veränderung einfach zu groß. Er verstand die Welt nicht mehr und wusste nicht wohin mit sich. Er fand seinen Platz nicht. Dauernd gestresst, zitternd, das Fell zottelig und es fiel büschelweise aus. Es hat mir sehr wehgetan ihn so zu sehen. Meinen schönen, stolzen Leo. Gerne wollte ich ihm den ruhigen Lebensabend schenken, den er brauchte und verdiente.
Bis zuletzt dachten Passanten, er sei noch ganz jung, weil er so agil, verspielt und sportlich war. Und dann ging es ganz schnell. Innerhalb von zwei Tagen hat er so abgebaut, dass er nicht mehr mit ins Haus wollte, sondern sich in der Garage in die letzte Ecke verzog. Im Jahr zuvor hatte er nur knapp eine Magendrehung überlebt und jetzt hatte er Schmerzen. Die Beine brachen ein. Ich kannte meinen Kumpel: Er würde in dieser Nacht sterben und er wollte auch gehen. Das letzte Stück des Weges war steinig, für uns Beide. Aber ich bin froh und dankbar, dass wir den Weg gemeinsam bis zum Schluss gegangen sind.
Am 19.06. um 19:06 Uhr haben sich seine Knopfaugen für immer geschlossen. Ein Datum das ich nicht vergessen werde. Ich wusste immer dass es schlimm wird, wenn er eines Tages gehen muss. Aber nicht, dass es so schlimm werden würde. Diesen tiefen Schmerz können nur Menschen nachvollziehen, die ein Tier geliebt haben und als Gefährten an ihrer Seite hatten. Man verliert einen Freund, ein Familienmitglied. Nicht weniger.
Für mich stand es außer Frage, dass er wieder zu uns kommen muss, um hier bei uns zu sein, wo wir ihn im Herzen tragen. Für seine Urne habe ich einen Platz in der Nähe des Gartenbetts ausgewählt und sie dort begraben. Im Halbschatten, leicht erhöht mit einem guten Überblick über sein Revier. Da hat er gerne gelegen. Für ihn wächst dort ein Labrador-Veilchen, es blüht im Juni. Aus Beton habe ich zwei kleine Möhren gegossen, über die alle lachen müssen, die ihn kannten. Wenn ich dort stehe oder in dem Beet werke, flüstere ich immer: „Na, Kumpel…“ Und inzwischen kann ich lächeln wenn ich mich an seine Verrücktheiten erinnere. Sein Platz im Garten wird zu einem Ort der Erinnerung.
Für Leo ‚Kumpel‘ | November 2007 – Juni 2020
Diese Kolumne ist im Buch „Liebesmüh mal drei“ erschienen, dem dritten Band der dreiteiligen Liebesmüh-Reihe: Gesammelte Essays, Artikel und Kolumnen über die Mühen, den Alltag mit Liebe zu überstehen – und die Liebe im Alltag nicht zu verlieren.
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